15. September 2022

Erstmals liefert eine gross angelegte, internationale Patientenbefragung wichtige Einsichten zu Diagnose und Behandlung sowie zu behandlungsbedingten Nebenwirkungen und psychologischen Begleiterkrankungen dieser seltenen neuroendokrinen Erkrankung. 

 

Hintergrund und Ziel der Studie

Diabetes insipidus ist eine seltene neuroendokrinologische Erkrankung, welche durch einen Mangel des anti-diuretischen Hormons Vasopressin (AVP/ADH) entsteht und sich klinisch durch Polyurie und Polydipsie kennzeichnet. Die bisherigen Forschungsarbeiten beschränken sich hauptsächlich auf Studien mit kleinen Patientenzahlen und Case-Reports.

Am Universitätsspital Basel befindet sich unter der Leitung der Forschungsgruppe Mirjam Chirst-Crain, Klinische Neuroendokrinologie, weltweit das führende Forschungszentrum für Diabetes insipidus. Hier wurden bisher die grössten Studien mit diesem Patientenkollektiv durchgeführt. Über die Jahre wurden Erfahrungsberichte von Patientinnen und Patienten zu behandlungsbedingten Nebenwirkungen, psychologische Komorbiditäten trotz adäquater Behandlung mit Desmopressin (ADH Rezeptor Agonist) und Behandlungsfehlern im klinischen Alltag gesammelt. Fehlbehandlungen während des Klinikaufenthalts, beispielsweise durch Verwechslung mit „Diabetes mellitus“ oder der Nichtverfügbarkeit von Desmopressin können tragische Folgen haben.

Vor diesem Hintergrund sollten in einer grossen internationalen Kohorte wissenschaftlich fundierte Daten zu Diagnose und Management von Diabetes insipidus erhoben werden. Hierfür wurde von einem Team von Expertinnen und Experten in enger Zusammenarbeit mit Patientenvertreterinnen und -vertretern eine Online-Umfrage entwickelt. Durch die direkte Einbindung von Betroffenen der Erkrankung konnte ein starker Fokus auf die Untersuchung von patientenrelevanten Outcomes gelegt werden.


Resultate

Die Rekrutierung für die Teilnahme an der Umfrage erfolgte über verschiedene Kanäle mit Unterstützung von Patientenorganisationen. Insgesamt haben weltweit über 1000 Personen, die von Diabetes insipidus betroffen sind, an der Umfrage teilgenommen. Bei einer Prävalenz von etwa 1 zu 25'000 ist dies die bisher grösste Studie ihrer Art.

    Pituitary Gland
    Central diabetes insipidus from a patient's perspective: management, psychological co-morbidities, and renaming of the condition: results from an international web-based survey


    Atila C, Loughrey PB, Garrahy A, Winzeler B, Refardt J, Gildroy P, Hamza M, Pal A, Verbalis JG, Thompson CJ, Hemkens LG, Hunter SJ, Sherlock M, Levy MJ, Karavitaki N, Newell-Price J, Wass JAH, Christ-Crain M.

    Lancet Diabetes Endocrinol. 2022 Aug 22:S2213-8587(22)00219-4.
    doi: 10.1016/S2213-8587(22)00219-4. Epub ahead of print. PMID: 36007536.

    Wichtige patientenrelevante Erkenntnisse sind:

    • Hyponatriämie ist eine häufige Nebenwirkung der Desmopressin-Behandlung. In dieser Studie berichtete jede/r vierte über mindestens eine Episode von Desmopressin-induzierter Hyponatriämie, die zu einem Klinikaufenthalt geführt hat.
       
    • Patientinnen und Patienten, die eine sogenannte Desmopressin-Escape-Methode  durchführten (eine bewusste Verzögerung einer Desmopressin-Dosis mindestens einmal pro Woche bis zum Auftreten der Polyurie), hatten eine niedrigere Hyponatriämie-Prävalenz (22%) im Vergleich zu Personen, die diese Methode nicht kannten und das Medikament zu fixen Zeitpunkten einnahmen (34%).
       
    • Jede/r vierte hatte Schwierigkeiten, während eines Krankenhausaufenthalts Desmopressin zu erhalten. Der häufigste Grund (in über 50% der Fälle) war die Nichtverfügbarkeit des Medikaments. Von sieben Patientinnen und Patienten in nüchternem Zustand erhielt eine Person kein Desmopressin und keine intravenöse Flüssigkeit. Diese berichteten über klassische Symptome einer Dehydrierung. Sie waren somit einem hohen Risiko für eine lebensbedrohliche Hypernatriämie ausgesetzt.
       
    • 80% gaben an, dass das medizinische Fachpersonal ihre Erkrankung mindestens einmal mit «Diabetes mellitus» verwechselt hatte und 85% sprachen sich für eine Umbenennung der Erkrankung aus.
       
    • Jede/r dritte berichtete über psychische Probleme und Veränderungen, die subjektiv mit ihrer Erkrankung zusammenhingen und 64% berichteten über eine reduzierte Lebensqualität.
       
    Cihan Atila

     


    «Für patientenrelevante Studien müssen wir unsere Patientinnen und Patienten in allen Phasen einer Studie involvieren – von der Definition der Forschungsfrage über die Planung der Studien bis zum gemeinsamen Interpretieren der Ergebnisse.
     

    Die Resultate dieser Studie können dazu beitragen, den Alltag im privaten Umfeld und die Behandlung in den Kliniken zu verbessern! In Zusammenarbeit mit den Betroffenen haben sich völlig neue Forschungsfragen entwickelt, die wir nun in weiteren gemeinsamen Projekten angehen werden.»


    Relevanz für die klinische Praxis

    • Angesichts der besorgniserregenden Anzahl an Fehlbehandlungen während des Klinikaufenthalts und der hohen Rate an Verwechslungen mit dem «Diabetes mellitus» ist es dringend erforderlich, medizinisches Personal besser über die Erkrankung und dessen korrekte Behandlung zu informieren. Desmopressin sollte hierbei als Notfallmedikament in jeder Klinik erhältlich sein.
       
    • Erstmalig konnte gezeigt werden, dass Patientinnen und Patienten, die eine Desmopressin-Escape-Methode anwenden, eine niedrigere Prävalenz an lebensbedrohlichen Hyponatriämien haben. Sie sollten deshalb über diesen Ansatz aufgeklärt und bei jeder Therapieinitiierung mit Desmopressin  entsprechend geschult werden.
       
    • Künftige Studien sollten die psychischen Veränderungen, deren Ursachen sowie neue Behandlungsoptionen untersuchen. Hierbei könnte ein zusätzlicher Oxytocin-Mangel eine wichtige erklärende Rolle spielen. In einer weiteren klinischen Studie (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT04648137) wird dieser Zusammenhang derzeit untersucht. Erste Daten sollen Ende 2022 folgen.
       
    • Eine Umbenennung der Erkrankung würde dazu beitragen, das Risiko einer Verwechselung mit «Diabetes mellitus» zu minimieren. Aktuell wird dies in einem Komitee der internationalen Fachgesellschaften für Endokrinologie aktiv in Erwägung gezogen.