01. März 2022

Der Blutmarker «Neurofilament light chain» kann Therapieentscheidungen bei Multipler Sklerose massgeblich verbessern.

Unter der Leitung von Prof. Jens Kuhle, Leiter des Multiple Sklerose Zentrums am Universitätsspital Basel (USB) und Forschungsgruppenleiter am Departement Klinische Forschung (DKF) und am Departement Biomedizin (DBM), wurde vor Kurzem eine wegweisende Studie im Journal «The Lancet Neurology» veröffentlicht.

Die Autoren zeigen darin, dass der Blutmarker «Neurofilament light chain (NfL)» bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose (MS) wertvolle Informationen über den zukünftigen Krankheitsverlauf liefern kann. Mit diesen Informationen kann die Therapie von MS-Betroffenen präziser individuell angepasst und der Krankheitsverlauf so potenziell verbessert werden.

Ausserdem stellen die Forschenden eine öffentlich zugängliche Web-Applikation zur standardisierten Beurteilung von individuellen NfL-Messwerten bereit. Dieses Tool kann sowohl von Forschenden als auch von behandelnden Ärztinnen und Ärzten in der klinischen Praxis frei genutzt werden.

Wir haben Prof. Jens Kuhle sowie Pascal Benkert, PhD, Senior Data Scientist am DKF und Leiter des SMSC Datenzentrums, der sich die Erstautorenschaft mit Stephanie Meier, PhD Studierende aus der Forschungsgruppe von Jens Kuhle, teilt, zum Gespräch getroffen.

Erstautor und Letztautor der kürzlich veröffentlichten Publikation in «The Lancet Neurology»: Pascal Benkert, PhD und Prof. Jens Kuhle


Herr Kuhle, die kürzlich in «The Lancet Neurology» publizierten Ergebnisse könnten die Behandlungspraxis bei Patientinnen und Patienten mit MS entscheidend verändern. Könnten Sie bitte erläutern warum?

Wir haben bei der schubförmigen MS eine breite Auswahl von inzwischen mehr als zehn verschiedenen zugelassenen und zum Teil hochwirksamen Medikamenten. Wir tun uns jedoch oft schwer, präzise personalisierte Therapieentscheidungen zu treffen - also genau zu wissen, für welche Person wann, welches Medikament geeignet ist. Deswegen ist man in der klinischen Praxis froh, wenn neben der klinischen Untersuchung und der Magnetresonanztomografie (MRI) zusätzliche Entscheidungshilfen zur Verfügung stehen, die direkter die krankheitsbedingte Nervenschädigung erfassen.

So sehen wir, dass ein Teil der nach klinischen und auf MRI basierenden Kriterien scheinbar stabilen Patienten, die man aktuell eher weniger intensiv medikamentös behandeln würde, dann doch im weiteren Verlauf eine Krankheitsprogression entwickeln. Diese mit neuen, zuverlässigen Markern früh zu identifizieren, bleibt ein Ziel der klinischen Forschung.

Das heisst, es gab bisher noch keinen etablierten Biomarker, der in Therapieentscheidungen bei MS eingeflossen ist?

Es gibt für die Multiple Sklerose keinen anderen im Blut messbaren Biomarker, der Therapieansprechen und Krankheitsaktivität in der klinischen Praxis zuverlässig anzeigen kann. Übrigens gibt es im gesamten Feld der neurodegenerativen Erkrankungen bisher keine solchen Blutbiomarker. NfL ist nicht nur ein Marker für MS, sondern auch ein sehr gutes generelles Mass für neuronale Schädigung. Das bedeutet, NfL ist unspezifisch für den Mechanismus der Schädigung. Somit haben wir einen Marker, der unabhängig von der jeweiligen Pathogenese der Erkrankung die neuro-axonale Schädigung quantifiziert. Da NfL also allgemeine Aussagen über neuronale Schädigung zulässt, könnte es gut möglich sein, dass dieser Biomarker in Zukunft ähnlich häufig bestimmt wird wie Cholesterin als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Wie ist der Begriff «personalisierte Medizin» in diesem Zusammenhang zu verstehen?

Wir haben das Problem, dass die hocheffektiven Medikamente -wenn auch selten- teils schwerwiegende Nebenwirkungen haben. Auf der anderen Seite haben wir sehr sichere Medikamente, die aber wenig effektiv sind. Dadurch sind wir Neurologen momentan hin- und hergerissen zwischen «hit hard and early», d.h. einfach alle Patienten maximal aggressiv zu behandeln, zum Preis von seltenen, aber schwerwiegenden Nebenwirkungen, versus vorsichtiger Therapie-Eskalation unter sehr genauer Beobachtung des Patienten. Wir wissen aber schon seit langem, dass bei MS eine Schädigung auftreten kann, die sich erst verzögert -oft erst nach Jahren- als irreversible Behinderung zeigen kann. Hier kann ein standardisierter, einfach verfügbarer und genauer Blutmarker als Mass für die Nervenschädigung sehr wertvoll sein. Er kann dazu eingesetzt werden, beim einzelnen Betroffenen personalisierte, also individuell massgeschneiderte Therapieentscheidungen treffen zu können.

Man erhöht also die Treffsicherheit der Behandlung?

Wir haben in unserer Arbeit gezeigt, dass ein Teil der Patienten, die scheinbar einen stabilen Krankheitsverlauf haben, also innerhalb eines Jahres keine MRI-Aktivität, keine Schübe oder Behinderungsprogression hatten, trotzdem hohe NfL-Werte aufwiesen. Diese Patienten zeigten im Folgejahr auch tatsächlich mehr klinische und bildgebende Krankheitsaktivität. Das bedeutet, dass wir offensichtlich mit dem Blutmarker den Krankheitsverlauf genauer und sensitiver detektieren können und damit Fälle identifizieren können, die in unserer Standarduntersuchung als stabil eingestuft werden. Das sind wahrscheinlich auch jene Patienten, die langfristig und eher unbemerkt Behinderungen entwickeln können. Das heisst, ja, man hat eine höhere Treffsicherheit.

«NfL als standardisierter, einfach verfügbarer und genauer Blutmarker für Nervenschädigungen ist sehr wertvoll. Er kann dazu eingesetzt werden, beim einzelnen Betroffenen personalisierte, also individuell massgeschneiderte, Therapieentscheidungen treffen zu können.»

Prof. Jens Kuhle


Herr Benkert, die von Ihnen programmierte Web-Applikation soll Ärztinnen und Ärzten weltweit zur Verfügung stehen, um die Einordnung individueller NfL Werte vorzunehmen. Können Sie das näher erläutern?

Um zu entscheiden, ob ein Wert erhöht ist, muss man erst einmal wissen, was normal und was nicht normal bedeutet. Dafür haben wir über 10'000 Proben von über 5’000 gesunden Personen aus vier internationalen Kohorten zusammengetragen und analysiert, wie die Verteilung ist. Die grosse Stärke unserer Studie ist diese grosse Referenzdatenbank, welche die Normalbevölkerung sehr gut repräsentiert und die Basis für die Interpretation individueller Messwerte ist.

Man weiss schon seit längerem, dass der NfL-Spiegel mit dem Alter zunimmt und erst kürzlich gab es Hinweise darauf, dass NfL mit dem Body Mass Index abnimmt. Allerdings ist dieser Zusammenhang nicht linear, sodass wir über ein komplexes statistisches Modell Referenzkurven ableiten mussten. Viele kennen das vom Kinderarzt, der einem zum Beispiel sagt, das Gewicht oder die Grösse des Kindes liege auf der 97. Perzentile im Vergleich zu Kindern desselben Alters.

Um das statistische Modell zur Berechnung von alters- und BMI-adjustierten Werten verfügbar zu machen, haben wir eine App erstellt, die es einem behandelten Neurologen erlaubt, Werte seines Patienten einzugeben und zu erkennen, ob dieser im Normbereich liegt oder nicht. Und er bekommt ebenfalls ein Mass dafür, wie stark erhöht der Wert ist, um das Ausmass der Krankheitsaktivität und das Risiko für zukünftige Aktivität für die Patientin oder den Patienten besser abzuschätzen können und Therapieentscheidungen zu treffen.

 «Um das statistische Modell zur Berechnung von alters- und BMI-adjustierten Werten verfügbar zu machen, haben wir eine App erstellt, die es einem behandelten Neurologen erlaubt, Werte seines Patienten einzugeben und zu erkennen, ob dieser im Normbereich liegt oder nicht."

Pascal Benkert, PhD


Das am DKF von Pascal Benkert und dem Team Applikationsentwicklung programmierte Tool Serum Neurofilament Light Chain Reference App erlaubt es durch Eingabe von Alter, NfL-Wert und Body-Mass-Index für den jeweilgen Patienten adjustierte Perzentile und Z-Werte zu berechnen:

Herr Kuhle, mit NfL als Biomarker können also Verschlechterungen im Krankheitsverlauf von MS vorhergesagt werden, die dann frühzeitig und gezielt therapiert werden können. Wäre es auch möglich, dass der NfL-Wert eine baldige Krankheitsverschlechterung anzeigt, die dann klinisch nicht eintritt? Dann würde der Patient womöglich übertherapiert und dem zusätzlichen Risiko von Nebenwirkungen ausgesetzt werden?

Der Vorteil von NfL ist, dass es ein neuronales Protein ist, welches auf der Basis einer sehr überzeugenden wissenschaftlichen Datenlage spezifisch für eine tatsächliche neuronale Schädigung spricht. Aber es ist natürlich so, dass die MS eine Erkrankung ist, die typischerweise in Schüben verläuft. Das heisst, aktiven Phasen folgen eher inaktive Phasen. Natürlich ist es nicht so, dass man nur noch diesen einen Wert bestimmen muss und es dann keinen Neurologen mehr braucht, weil die Interpretation und Therapieentscheidung so einfach ist.

Aber was wir in unserer Arbeit zeigen konnten, ist, dass mit einem erhöhten NfL-Wert die Wahrscheinlichkeit für weitere Krankheitsaktivität im nächsten Jahr stark erhöht ist. Wir verwenden NfL als Ergänzung zu den etablierten Untersuchungen und sind auf der Suche nach weiteren Erkenntnissen, indem wir auch prospektive Studien durchführen möchten. Da der Zeithorizont bei MS nicht selten mehr als 50 Jahre betrifft, ist es nicht ganz trivial, zu untersuchen, ob zum Beispiel eine Individualisierung und womöglich eine weniger aggressive Behandlung langfristig wirklich zu einem besseren Ergebnis führt. Auch bei «Deeskalationen» könnten verlässliche Biomarker wichtige Hinweise auf eine zunächst unbemerkte Zunahme der Krankheitsaktivität liefern.

Das klingt nach einer grossen Herausforderung für die Forschung.

Jens Kuhle: MS ist eine extrem langfristige chronische Erkrankung, die man dementsprechend auch lang verfolgen muss, um die Entstehung von Behinderung rechtzeitig erfassen zu können. Kohortenstudien mit langfristigem Follow-up sind deshalb auch so wichtig. Und daher sind auch gute potenzielle Surrogatparameter wie NfL enorm hilfreich.

Pascal Benkert: NfL ist ein Marker, der den momentanen Grad der Schädigung quantifiziert. Zum Vergleich: Wenn im MRI Schädigungen zu sehen sind, ist es oft bereits zu spät. Denn Läsionen, die im MRI sichtbar sind, bedeuten, dass der Schaden schon angerichtet ist. Ich vergleiche das gerne mit einem Fiebermesser, das auch anzeigt, ob im Moment etwas im Körper passiert und man deshalb genauer untersuchen und eventuell behandeln muss.

Inwiefern können diese Erkenntnisse nun in die klinische Praxis übertragen werden, sodass behandelnde Neurologinnen und Neurologen routinemässig damit arbeiten? Wie weit ist dieser Weg noch? NfL ist wahrscheinlich kein Blutparameter, der immer problemlos überall bestimmt werden kann.

Jens Kuhle: Es ist sehr interessant und auch kulturell ganz unterschiedlich, wie dieser Biomarker schon jetzt in der Routine verwendet wird. Ich weiss zum Beispiel, dass die Verwendung von NfL in Kanada als Biomarker schon sehr gängig ist. Hier in Basel haben wir letztes Jahr 700 Proben aus der Routine gemessen. Und wir verwenden zunehmend NfL in unserem klinischen Alltag im MS-Zentrum in Basel. Die Industrie ist momentan dabei, den Assay auch für Plattformen zu entwickeln, die zum Beispiel in Hausarztpraxen stehen, sodass NfL zukünftig wahrscheinlich überall leicht bestimmt werden kann.